Je nachdem, ob man mit der Ripper-Ära von JUDAS PRIEST glücklich war oder nicht, musste man unterschiedlich lange auf diese Scheibe warten. Für die einen waren es vier Jahre seit "Demolition", für die anderen fünfzehn Jahre seit "Painkiller". Was beide Gruppen jedoch gemeinsam haben, sind die Spannung, die Vorfreude und die Erwartungsangst. Selten hat die Metalszene einem Album so sehr entgegengefiebert wie dieser Tage "Angel Of Retribution", dem fünfzehnten Album der Legende aus Birmingham im Jahr 36 ihres Bestehens.
Nun ist die Platte also da und ich wage zu vermuten, dass wirklich enttäuscht eigentlich nur die Wenigen sein dürften, welche die Ripper-Ära gerade wegen der modernen Elemente schätzten, da diese erwartungsgemäß deutlich reduziert wurden. "Angel Of Retribution" ist ein durch und durch klassisches Metalalbum geworden, was aber keineswegs heißt, dass die Priester nur auf Nummer sicher gegangen wären und sich nicht an Experimente herangewagt hätten. Ganz im Gegenteil: Mit der an eine zeitgemäße Version von LED ZEPPELIN erinnernden Single 'Revolution' oder dem dreizehnminütigen, epischen Doomsong 'Lochness', der mit sehr hymnischer, mit Chören unterlegter Bridge und ebensolchem Refrain ankommt, haben die Engländer durchaus Material an Bord, das in dieser Form aber auch wirklich keiner von ihnen erwartet hätte. Sicher klingen auch diese Stücke nach JUDAS PRIEST, vor allem 'Revolution' hat was aus der "Killing Machine"-Phase, aber sie sind mutig, innovativ und trotzdem klassischer Metal. Diesen Spagat zu meistern, hätten JUDAS PRIEST wohl nur wenige Kritiker zugetraut, doch ich finde, dass es ihnen mit diesen Songs hervorragend gelungen ist.
Das ist's aber noch lange nicht gewesen. Auch das von akustischen Gitarren und Piano getragene, episch-melancholische 'Eulogy' ist alles andere als vorhersehbarer Standard und das von Produzent Roy Z mitkomponierte 'Deal With The Devil' atmet zwar den Geist von 'Ram It Down', hat aber auch einen deutlichen Touch von den letzten beiden HALFORD-Scheiben abbekommen. Zu viel ungewöhnliche Elemente meint ihr? Keineswegs, denn bereits vom Opener 'Judas Rising' angefangen, ist klar, dass JUDAS PRIEST sich sehr wohl dessen bewusst sind, was ihre Fans hören wollen. Die von vielen zuletzt schmerzlich vermissten melodischen Leadgitarren und Axtduelle sind wieder allgegenwärtig und sie sind unglaublich gut. Man muss sich wirklich fragen, warum die Herren Tipton und Downing so was nicht auch für Tim Owens geschreiben haben. Mit 'Demonizer', 'Hellrider' und dem bereits erwähnten Opener sind auch die von vielen ersehnten "Painkiller II"-Vibes vorhanden. Ich finde es aber sehr positiv, dass nicht das ganze Album in diese Richtung geht. Dies wäre vermutlich nur der Versuch geworden, ein erfolgreiches Konzept eins zu eins zu kopieren, was dann auch wieder viele Fans enttäuscht hätte, denen schon der Schmerztöter zu modern und extrem war. "Angel Of Retribution" wird wirklich der ganzen PRIEST-Historie gerecht und glänzt auch in easy rockenden Momenten mit Tiefgang, wie es das recht ungewöhnlich gesungene 'Worth Fighting For' schön belegt. 'Wheels Of Fire' ist insgesamt eher unspektakulär, rockt aber auch sehr gut in der Tradition der späten Siebziger und bietet einige wirklich tolle Hooks. Bleibt nur noch die Ballade 'Angel', die sicher mancher als ein wenig kitschig empfinden wird. Balladenfans werden dagegen ihre helle Freude an dem von Rob Halford wirklich sehr gefühlvoll gesungenen Stück finden, das zum Ende hin regelrecht explodiert. Für mich eine fantastische Ballade, die vom Gesang über die iberisch anmutenden Akustikgitarren bis hin zum intensiven, druckvollen Finale auf ganzer Linie überzeugt.
Ihr seht schon, ihr werdet von mir nichts Negatives zu "Angel Of Retribution" hören. Bin ich also einer, der kritiklos das Album einer großen Band hochlobt? Nun, dieses Urteil überlasse ich euch. Ich persönlich finde an der Botschaft des Vergeltungsengels einfach nichts, aber auch gar nichts auszusetzen, und werde sicher nicht anfangen etwas schlecht zu reden, das ich rundum perfekt finde. Ich gehöre beleibe nicht zu denen, die immer genörgelt haben, nur um Halford zurück in die Band zu zaubern und ihn dann abzufeiern. Im Gegenteil, ich fand die Alben der Ripper-Ära sehr gut, und mir hat es für Owens wirklich leid getan, als ich hörte, dass Halford zurückkommen würde. Entsprechend skeptisch war ich auch zunächst hinsichtlich der Reunion. Aber ich muss nun wirklich eingestehen, dass das neue Werk die beiden Vorgänger doch eindeutig in Schatten stellt. Und einige der alten Alben mit Halford noch dazu. Für mich stimmt hier einfach alles. Auch wenn nicht jeder Track ein absoluter Übersong ist, kann die Mischung auf ganzer Linie überzeugen. Wenn dieses Bekenntnis meinen Ruf als Kritiker ruinieren sollte, dann soll es so sein. ;-)
Die Erstauflage der Scheibe kommt im sehr schön gestalteten Digibuch und enthält eine Bonus-DVD. Darauf findet sich eine ca. 40-minütige Dokumentation mit Konzertausschnitten und Interviews mit allen fünf Bandmitgliedern, die im Rahmen der Reuniontour gemacht wurden. Separat anwählbar ist auch ein ebenfalls ca. 40-minütiger Mitschnitt vom letztjährigen Konzert im spanischen Valencia. Also alles in allem ein sehr hochwertiges Package, das meiner bescheidenen Meinung nach eigentlich jeden PRIEST-Fan glücklich machen sollte. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.
Anspieltipps: Judas Rising, Deal With The Devil, Demonizer, Angel, Hellrider, Lochness